Texte von frühen Karate-Adepten sind sehr selten. Eine der wenigen überlieferten Quellen vom Anfang des 20. Jahrhunderts stammt von Hanashiro Chōmo 花城長茂 (1869–1945). Dabei handelt es sich um ein handschriftliches Manuskript mit dem Titel "Das Zusammenbringen der Hände im Karate" (Karate-Gumite 空手組手).
Im ausgehenden Königreich Ryūkyū geboren, trug Hanashiro neben seinem japanischen Namen zudem den chinesischen Namen Ming Tsêng-Shêng 明増盛. Karate lernte er wohl vor allem von Itosu Ankō 糸洲安恒 (1831–1915) und Matsumura Sōkon 松村宗棍. Laut einem Gedenkstein seiner Familie war die Kata Passai eine seiner Spezialitäten. Hokama Tetsuhiro 外間哲弘 (geb. 1944) hingegen schreibt, seine Lieblings-Kata sei insbesondere Wanshū gewesen, während Nakamoto Masahiro 仲本政博 (geb. 1938) Gojūshiho und Jion als seine Lieblings-Kata anführt. 1935 lobt der Karate-Forscher Higaonna Kamesuke 東恩納亀助 (1905–1968) Hanashiros Forschungen über die Kata und die Theorie des Karate.
Datiert ist sein Manuskript auf den 8. Monat des Jahres Meiji 38 (1905). Somit entstand es zu einem historisch bemerkenswerten Zeitpunkt. Nur wenige Tage zuvor, am 31. Juli 1905, ging Japan siegreich aus der letzten militärischen Auseinandersetzung während des Russisch-Japanischen Kriegs (1904–1905), der Besetzung der Insel Sachalin, hervor. Hanashiro soll in diesem Krieg gedient haben. Darüber hinaus unternahm Hanashiro in jenem Jahr gemeinsam mit Funakoshi Gichin (1868–1957) eine öffentliche Karate-Vorführungstour durch Okinawa.
Dem Titel zufolge sind Partnerübungen (Kumite) Thema des Manuskripts. Doch einschließlich des Titelblatts sind lediglich zwei Blätter durch den Karate-Forscher Nakasone Genwa 仲宗根源和 (1895–1978) fotografisch festgehalten und später bekannt gemacht worden. Da das zweite Blatt mitten in einem Satz abrupt endet, ist uns nur ein Fragment des Manuskripts bekannt. Zu welchem Zweck es verfasst wurde und welche Inhalte es jenseits der beiden zugänglichen Blätter enthält, ist nicht nachvollziehbar.
Drei Dekaden später sprach Hanashiro selbst während einer Gesprächsrunde zum Thema Karate mit Verweis auf das Datum "8. Monat des Jahres Meiji 38 [1905]" davon, dass er in all seinen "Schreibheften" (Chōmen 帳面) die Schriftzeichen für "leere Hand" nutzte. Demnach gehören die beiden Blätter zu einem Schreibheft, das er wohl privat nutzte. Von einer geplanten Veröffentlichung seiner Notizen redete er nicht. Hanashiro schrieb sie mit Tusche in japanischer Sprache. An zwei Stellen schwärzte er den Text, möglicherweise um Schreibfehler auszumerzen.
Unten folgt meine vollständige Übersetzung des Textfragments von 1905. Worte in runden Klammern stammen von Hanashiro selbst, Worte in eckigen Klammern fügte ich zum besseren Verständnis hinzu. Am Ende des letzten Absatzes füge ich drei eckige Klammern ein, die den unvollendeten Satz auf Grundlage meiner Überlegungen beenden sollen. Sie beruhen auf Hanashiros zuvor verwendeten Formulierungen und seinem Hinweis, dass nun der annehmenden Hand eine zweite Hand unterstützend hinzugefügt wird. Werden diese drei eckigen Klammern von mir weggelassen, ist Hanashiros unvollendeter Satz zu sehen.
Das Zusammenbringen der Hände im Karate
Erste Unterweisung
Ein einzelner Stoß [Tsuki] und ein einzelner Abwehrfeger [Schwärzung ca. 2 Zeichen].
Erster Abschnitt: gerader Stoß [Choku-Zuki 直突] auf der oberen Linie und Abwehrfeger auf der oberen Linie (ausgewählte Soldaten zwei, drei Methoden).
1 Methode der greifenden Annahme [Tsukami-Uke 掴ミ受ケ]
Kommandos 'Haltung einnehmen!' [Kamae 構へ] 'Stoßt!' [Tsuke 突け] 'Anhalten!' [Tome 留め].
Mit dem Kommando 'Haltung einnehmen!' [Kamae] nehmen A und B in der Entfernung von ungefähr vier Shaku [ca. 1,21 Meter] Abstand [voneinander]. Sie bringen beide Fersen auf eine [gleiche] Linie. Den Raum zwischen Ferse und Ferse halten sie in der Entfernung von ungefähr einem Shaku [ca. 30,3 Zentimeter] auseinander und wenden beide Fußspitzen ein wenig zu den Außenseiten. Beide Hände stehen [so], wie sie sich getrennt haben, einander gegenüber.
Mit dem Kommando 'Stoßt!' [Tsuke] macht A mit dem rechten Fuß einen Schritt [vor]. Und gleichzeitig stößt er mit der rechten Faust schnell zur Gesichtsgegend von B.
B macht mit dem rechten Fuß einen Schritt nach hinten. Und gleichzeitig nimmt er mit der linken Hand schnell von innen das rechte Handgelenk von A greifend an.
A führt mit der linken Faust die Eröffnungsmethode aus, und B führt mit der rechten Hand die Eröffnungsmethode aus. Sie führen es irgendwie links und rechts abwechselnd aus und setzen es fort, bis es das Kommando 'Anhalten!' [Tome 留め] gibt.
Mit dem Kommando 'Aufhören!' [Yame 止め] [Schwärzung ca. 5 Zeichen] nimmt B, indem er die rechte (linke) der linken (rechten) Hand hinzufügt, mit der linken (rechten) Hand die rechte (linke) Faust von A greifend an und [kontert] gleichzeitig mit der rechten (linken) Faust oder mit den rechten (linken) Fingern [zur] Gesichtsgegend oder [zu einer anderen Körpergegend] von A │
Recht eindeutig beschreibt Hanashiro den technischen Ablauf einer Partnerübung. Auf dem Blatt ist allein die zur "Ersten Unterweisung" gehörende erste "Methode" des "ersten Abschnitts" zu finden. Daraus lässt sich ableiten, dass Hanashiro innerhalb des ersten Abschnitts wenigstens eine weitere "Methode" beschreiben wollte oder beschrieben hat. Vermutlich dürfte sie wie die erste Methode gleichfalls eine einzelne Abwehrhandlung gegen einen einzelnen geraden Stoß zur Kopf- und Halsgegend umfassen. Ob dieser Ablauf die Übung in einer Unterrichtssituation oder etwa den Ablauf einer Vorführung skizzieren sollte, bleibt ungewiss.
Die beiden Partner bezeichnet Hanashiro als "Soldaten" und unterscheidet sie mit den Zeichen Kō 甲 und Otsu 乙, die ich in meiner Übersetzung einfach als "A" und "B" übertrage. Unklar ist, ob Hanashiro tatsächlich an Soldaten der japanischen Armee, in der er gedient hatte, dachte oder ob er allgemein Karate-Übende mangels eines besseren Worts als "Soldaten" bezeichnete. Der heute alltägliche Fachbegriff für Karate-Anhänger, Karateka 空手家, war damals – wie viele andere heute übliche Fachbegriffe – noch nicht verbreitet.
Hinsichtlich der eigentlichen technischen Ausführung lässt der Text viele Fragen offen. Zum Beispiel erwähnt er nicht, was die jeweils nicht unmittelbar an der Bewegung beteiligte Hand zu tun hat. Sollte sie an eine bestimmte Stelle des eigenen Körpers zurückgezogen oder eher fallen gelassen werden? Ein weiteres Beispiel wäre die Art und Weise der Schritte. Sollten die Beine bei den Schritten auf eine bestimmte Weise gebeugt oder eher gestreckt bewegt werden?
Fachbegriffe sind oft nicht übertragbar
Auch der von Hanashiro verwendete Fachbegriff "greifende Annahme" (Tsukami-Uke) ist problematisch. Er spielt zwar auf ein "Greifen" an, veranschaulicht aber nicht, wie genau der gesamte technische Ablauf aussehen sollte. Gewiss hatte Hanashiro selbst eine Vorstellung davon, was er mit diesem Wort beschreiben wollte. Fachbegriffe im Karate können sich jedoch einerseits inhaltlich teilweise stark je nach Schulrichtung oder Lehrkraft unterscheiden. Andererseits kann ein solcher Fachbegriff technische Aspekte umfassen, die über die bloße Wortbedeutung hinausgehen. Aufgrund dessen ist es nicht möglich, Hanashiros „greifende Annahme“ (Tsukami-Uke) ohne weiteres praktisch nachzustellen.
Siebzehn Jahre später veröffentlichte Funakoshi Gichin sein erstes Lehrbuch, in dem er u. a. verschiedene Handtechniken erläutert. Darunter nennt er auch eine Handtechnik, die das Wort "greifen" enthält. Funakoshi beschreibt sie folgendermaßen:
Die Greifende Hand [Tsukami-Te 摑手] ist auch die Angelegenheit, nach der hereinkommenden Hand des Feinds zu greifen und sich ausweichend abzuwenden. Aber die Angelegenheit Kunstfertigkeit anzuwenden, indem man die Kraft des Gegners ausnützt während man die gegriffene Hand zieht, ist noch wunderbarer. (Siehe Naihanchi, Bild 2)
Funakoshis Technik namens "greifende Hand" (Tsukami-Te) besteht also zusätzlich zum Akt des "Greifens" aus einem guten Sinn für Timing, einer Art von Ausweichbewegung sowie einer Zugbewegung unter Ausnutzung der gegnerischen Kraft. Möglich wäre folglich, dass sich auch hinter Hanashiros "greifender Annahme" (Tsukami-Uke) zusätzliche, durch den Fachbegriff an sich nicht mitbeschriebene Handlungen und Fähigkeiten verbergen könnten. Andererseits dürfen Funakoshis und Hanashiros "greifende" Techniken nicht freimütig als inhaltlich übereinstimmend aufgefasst werden. Schließlich verweist Funakoshi bei seiner Erläuterung auf das Bild einer Kata-Geste. Eine derartige Verknüpfung fehlt in Hanashiros Textfragment.
Anmerkungen
Ausführliche Informationen über Geschichte und Inhalte des Kumite liefere ich in meinem Buch "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band II".
Eine vollständige, mit Bildern versehene Anleitung zu Funakoshis grundlegender Kumite-Form "Ten no Kata" von 1943 übersetze ich in "Untersuchungen zu Funakoshi Gichins Einführung in das Karate".
Die geschichtlichen Hintergründe der Bezeichnung „Karate“ einschließlich der Rolle von Hanashiros Manuskript lege ich in "Karate. Kampfkunst. Hoplologie." dar.
Bibliografie
G. Funakoshi: Ryūkyū Kenpō. Karate (Ryūkyūs Faustmethode: Die chinesische Hand), Tōkyō 1922
T. Hokama: Okinawa Karate Retsuden Hyakunin (Biographien von einhundert Personen des okinawanischen Karate), Ōzato 2001
M. Nakamoto: Okinawa Dentō Kobudō. Gairyaku to Shuri-Te-Kei no Karate Kobudō no Tatsujin (Traditionelles Kobudō aus Okinawa – Ein Abriss mit Karate- und Kobudō-Meistern der Linie des Shuri-Te), Uruma 2006
G. Nakasone: Karate-Dō Taikan (Große Betrachtung des Wegs des Karate) (kommentierte Neuauflage), Ginowan 1991
S. Takamiyagi et al.: Okinawa Karate Kobudō Jiten (Lexikon des okinawanischen Karate und Kobudō), Tōkyō 2008
K. Tōyama: Karate-Dō Taihōkan (Großer Schatzspiegel des Karate-Dō), Tōkyō 1960
H. Wittwer: Higaonna Kamesuke über Karate in Okinawa, Japan & Hawaiʻi, Berlin 2016
Henning Wittwer