Ki oder chinesisch Ch’i – 氣 bzw. in vereinfachter Schreibung 気 – taucht als Begriff immer wieder mal in den überlieferten Texten der Karate-Pioniere auf. So verwenden ihn beispielsweise Asato Ankō (1828–1906), Itosu Ankō (1831–1915) oder auch Funakoshi Gichin (1868–1957). Allerdings ist es schwierig, diesen Begriff zu übersetzen.
Denn einerseits gehen jene Karate-Pioniere oft nicht weiter auf ihn ein, d. h. sie erläutern ihn nicht. Andererseits gibt es gegenwärtig viele unterschiedliche Auslegungen des Begriffs, die sich je nach Kampfkunst, Karate-Strömung oder Person unterscheiden können. Um die Bedeutung dieses Worts etwas besser auszuloten, sollten wir Texte zu Rate ziehen, die aus dem damaligen Umfeld stammen. Dadurch erhalten wir eine Idee davon, was einzelne Karate-Pioniere gemeint haben dürften, wenn sie von Ki sprachen.
Unten folgt meine Übersetzung eines kurzen Artikels, der im Jahre 1934 in der ersten und leider letzten Ausgabe des Journals „Forschungen zur Leeren Hand“ abgedruckt wurde. Sein Titel lautet „Ki-Erziehung“. Allerdings schrieb ihn der Verfasser unter Verwendung eines Pseudonyms, nämlich Tokudai Genkotsu 特大拳骨, das so viel wie „Die extragroße Faust“ bedeutet. Abgesehen von dieser kleinen Einschränkung liefert der Text einen guten ersten Einblick ins Thema:
Ki-Erziehung
Tokudai Genkotsu
Als ich eine Person, die zum ersten Mal Karate sah, fragte, was Karate ist, wurde mir von ihr gesagt:
„Karate ist Ki!“
[Und sie sagte:]
„Ich denke, allein schon durch solch ein Ki, das Leute erwerben, die sich den schwarzen Gürtel umbinden, ist Karate wirklich eine kostbare Sache.“
Von Meister Funakoshi wird immer gesagt, dass man die Erziehung des Intellekts [Chiiku 智育], die Moralerziehung [Tokuiku 徳育], die Leibeserziehung [Taiiku 体育] zusammen mit der Ki-Erziehung [Kiiku 気育] durchführen muss. Im Karate führt man von Natur aus diese Ki-Erziehung durch. Und es scheint, dass es durch die vorherigen Worte bewiesen wird. Was das Ki betrifft, wenn man im Rang des Shodan [erste Stufe] eine Kata macht, wird von der anderen Seite das „Es ist ein bisschen schwer, sich anzunähern. Es ist [ein bisschen] schwer, einzudringen.“ lautende Gefühl in der Brust gehegt. Erzählt wohl nicht auch [die Floskel] „nicht kämpfend siegen“ vom Geschehen aus dieser Region?
Wo werden Sie, Karate machend, am meisten müde? Die [so] lautende Frage ist eine Frage, die wir oft [gestellt] bekommen. Und wenn ich überlege, selbst wenn die Übung nicht einseitig ist, wenn es keine besonders ermüdende Stelle ist, ist es nichts, [wo] ich nicht auch besonders müde werde. Ich bin gezwungen zu sagen, dass der ganze Körper müde wird. Jedoch ist die Natur der Müdigkeit anders als die Müdigkeit wie nachdem man schwimmen war, nachdem man ein [heißes] Bad nahm und Ähnlichem. Dies ist wohl [so], weil die Müdigkeit des Ki in hohem Maße zunimmt. Indem man ein Shodan wird, macht man, was das Abgeben von so viel Ki betrifft, im Fall einer Übung ziemlich sicher eine Übung des Ki. Dann wird das Ki müde. Bei einer Übung von einem Grad, bei dem das Ki nicht müde wird, wird nicht so viel Ki erworben. Bei der Müdigkeit des Ki gibt es vielleicht keine angenehme Ermüdung, wie bei der bloßen körperlichen Müdigkeit. Die „Ki schmieden“ heißende Angelegenheit ist im Hinblick auf das [weitere] in der Gesellschaft leben das wichtigste, hat das weiteste Anwendungsgebiet und dazu den bedeutendsten Effekt. Schon [für] das Erwerben dieses einen Ki lohnt sich das Karate-Machen reichlich.
Indem man zu viel Karate macht, wird man krank. Es wird eine unerklärliche Krankheit. Diese [Krankheit] geht, weil das Ki müde geworden ist, mit gewöhnlichen Arzneien und Spritzen nicht weg. Aber indem ein Arzt irgendeine Krankheit hervorstochert, stellt er einem eine Arznei hin. Wenn nur die grundlegende Müdigkeit des Ki genest, bessert sich die Gesundheit. Daher müssen Karate machende Menschen gut den Ursprung des eigenen Leidens erforschen. Wenn sie für das Genesen des Ki andauernd keine Zeit haben, werden sie krank. Deswegen ist es, was auch [immer für ein] Training, dasselbe. Wenn man Ki gebraucht und dem Genesen keine Zeit gibt, wird man nicht gesund werden. Man ist immer müde.
Im Hinblick auf die Übung des Karate ist die für das Ki ermüdendste [Übung] die Kata. Als nächstes sind es die Kumite-Formen [Kumite-Gata]. Beim gewöhnlichen Kumite und Makiwara empfindet man die Müdigkeit des Ki nicht besonders. Was nur die Sache des letzteren betrifft, muss man sie als für die Ki-Erziehung [Kiiku] nicht direkt nützlich ansehen. Die im Karate wichtigste Übung der Kata ist die Übung, [bei der] das Ki am meisten müde wird. Was diese Angelegenheit betrifft, [so] wird sie auch in der Bedeutung „Ein wichtiger Teil des Karate ist die Ki-Erziehung.“ verstanden.
Anmerkungen
Als kleines Fazit können wir festhalten, dass Ki für den Autor dieses Artikels etwas wie „Geist“ im weitesten Sinne ist. „Nicht kämpfend siegen“ verknüpft er mit der Ausstrahlung oder Wirkung, die ein Karate-Adept auf einen Laien hat.
Die überlieferten Texte von Asato Ankō und Itosu Ankō, in denen das Wort Ki gebraucht wird, finden sich in „Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen (Band I)“ (S. 9 ff. und S. 27 ff.) sowie in „Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band II“ (S. 2 ff.).
Auf die Frage des Ki und besonders die des Kiai 気合 geht Funakoshi Gichin selbst ausführlich in seiner Abhandlung „Die Kunst des Kiai – was ist das?“ von 1936 ein, die ich vollständig übersetzt und kommentiert in „Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band III“ (S. 24 ff.) vorlege.
Über die Zusammenhänge seines Karate mit der Erziehung des Intellekts (Chiiku), der Moralerziehung (Tokuiku), und der Leibeserziehung (Taiiku) schrieb Funakoshi 1937 einen Aufsatz, den ich in „Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band III“ (S. 38 ff.) übersetze.
Quelle
G. Nakasone (Hrsg.): Karate Kenkyū (Forschungen zur Leeren Hand), Tōkyō 1934
Henning Wittwer