Funakoshi Gichin 船越義珍 (1868–1957) dürfte zu den bekanntesten Persönlichkeiten in der Karate-Welt gehören. Daher werden er und sein Karate häufig und gerne in Büchern, Artikeln, Vorträgen oder Gesprächen zum Thema gemacht. Hin und wieder treten so auch kritische Bemerkungen zutage. Hier möchte ich auf eine solche Kritik eingehen.
In der August-Ausgabe 2006 des "Karate-Dō-Magazins JKFan" (Karate-Dō Magajin JKFan 空手道マガジン JKFan) wurde ein Artikel über den Karate-Pionier Itosu Ankō 糸洲安恒 (1831–1915) veröffentlicht, an dem der okinawanische Karate-Forscher Kinjō Hiroshi 金城裕 (1919–2013) mitwirkte. Darin bezeichnet Kinjō in einem angefügten Interview Funakoshi Gichins "Zwanzig Paragraphen des Karate" als "Gedanken eines Laien". Demzufolge wäre Funakoshi Gichin aus Kinjōs Sicht auf dem Gebiet des Karate ein "Laie" (Shirōto 素人). Kinjō erläutert seine Kritik so:
Obgleich Meister Funakoshi die [äußere] Form des Karate übte, glaube ich, dass er nicht in die Erforschung des Inhalts eintrat, nicht [wahr]?
Mit anderen Worten handle es sich um gehaltloses Karate. Relativiert wird seine Kritik allerdings durch zwei auffällige Punkte: Kinjō gründet sie erstens auf einem Text Funakoshis und nutzt zweitens das Verb "glauben". Über wirklich praktische Erfahrung als Trainingsteilnehmer in Funakoshis Unterricht oder gar als Übungspartner von Funakoshi verfügt er also eher nicht.
Eine solche stark zeitversetzte Kritik richtig einzuordnen und zu bewerten, ist nicht einfach. Denn der Kritisierte selbst ist längst verstorben und es gibt nur sehr wenige Filmschnipsel, die ihn und sein Karate zumindest ansatzweise in bewegten Bildern zeigen. Überdies eignet sich Filmmaterial im Zusammenhang mit Kampfkunst nur sehr bedingt, um tatsächlich nachvollziehen zu können, was in Partnerübungen (Kumite 組手) zwischen zwei oder mehr Beteiligten vorgeht.
Ein schlichter Ansatzpunkt zum Umgang mit dieser Kritik wäre die sprachliche Ebene. Rein sprachliche Gegenstücke zum Ausdruck "Laie" lassen sich ohne weiteres in früheren Veröffentlichungen finden. 1937 wird Funakoshi beispielsweise vom Asahi-Zeitungsverlag Okinawa in einem Buch über bedeutende Persönlichkeiten aus der Präfektur Okinawa als ein "nationaler Schatz" bezeichnet, auf den die Präfektur stolz sein könne. Dekaden später, 1978, argumentiert Higa Yūshirō 比嘉雄四郎, dass Funakoshi Gichin als Kensei 拳聖 ("Faustweiser" bzw. "Faustheiliger") zu betiteln sei.
Um Kinjōs abwertende Aussage über Funakoshis körperlich-technisches Vermögen beurteilen zu können, sind Aussagen von Zeitzeugen erforderlich. Hierfür sollten jene Zeitzeugen herangezogen werden, die – anders als Kinjō – nennenswerten Kontakt zu Funakoshi hatten. Kubota Shōichi 久保田正一 (1917–1994) etwa erinnert sich 1985 folgendermaßen:
Im vierten Monat des Jahres Shōwa 10 [1935] trat ich in die alte Handelshochschule Tōkyō (die jetzige Hitotsubashi-Universität) ein. Indem ich gleichzeitig in ihren Karate-Klub eintrat, wurde ich einer unter den Schülern von Funakoshi. Und ich ging in Meister [Funakoshis] "Pförtnerhaus der Klarheit und des Rechten" [Meishō-Juku 明正塾] ein und aus.
Deshalb konnte ich auch mit der Atmosphäre in der geschätzten Familie Funakoshi in Berührung kommen. Es ist [so], dass ich, der ich noch ein grüner [d. h. unreifer] Junge war, vom rechtschaffenen Charakter des Meisters [Funakoshi] und seiner ganzen aufrichtigen Familie tief beeinflusst wurde.
Demzufolge übte Kubota nicht nur unter Funakoshi, sondern lernte ihn auch privat kennen. Wie sich Funakoshis Karate in der Partnerübung auswirkte, beschreibt Kubota so:
Gleichzeitig machte ich auch eine bis [dahin] stark und tief in meine Haut eindringende Erfahrung, dass sie ununterbrochen fortlebte: Indem von Meister [Funakoshi], der mich freundlicherweise zum Übungspartner machte, meine stoßende Hand [Tsuki-Te] mit einem Ruck gefasst wurde, wurde ich völlig zu einem „festgemachten Ding“ gemacht. Und in dem Zustand wurde ich von ihm mit einem "Hoi!" zurückgestoßen.
Ein "festgemachtes Ding" (Sue-Mono 据物) ist eigentlich eine Leiche oder ein lebendiges Opfer, das fixiert wird, um daran Schnitttests mit einem japanischen Säbel durchzuführen. Kubota nutzt den Ausdruck bildlich, um anzudeuten, dass ihn Funakoshis Annahme mit anschließendem Ergreifen des Angriffsarms sozusagen unbeweglich gemacht hatte. Mit anderen Worten vermochte es Funakoshi mittels seiner Annahme und seines Griffs, Kubotas Körper mehr oder weniger handlungsunfähig werden zu lassen, bevor er seinen Gegenstoß abgab. Diese Fähigkeit Funakoshis darf als deutlicher Anhaltspunkt dafür erachtet werden, dass er nicht allein einer äußeren Form des Karate nachging, wie von Kinjō vermutet. Tatsächlich wirkte sich dieses von Kubota selbst erfahrene körperlich-technische Vermögen Funakoshis viel prägender auf ihn aus, als es die kurze Beschreibung vermuten lässt. Denn Kubota versuchte es sich danach selbst zu erarbeiten:
Die Folge war dann, dass eben dieses Erlebnis in späteren Jahren meinem Karate entschieden eine Richtung anheftete und meiner Auslegung und Anwendung der "Kata" frisches Leben einhauchte.
Takagi Masatomu 高木正朝 (1912–1996) liefert 1957 ein anders Beispiel. In diesem Fall handelt es sich um keine Übungssituation, sondern um einen mehr oder weniger geplanten Überraschungsangriff. Laut Takagi saß Funakoshi an einem sonnigen Frühlingstag im Jahre 1930 im Schneidersitz an der Südseite des Dōjō. Er schien also unvorbereitet. Was dann geschah, erzählt Takagi in der dritten Person nach:
Dem jungen Mann mit einem Schwarzgurt fiel plötzlich ein furchtloser Versuch ein, und er trat schleichenden Schritts näher vor Lehrmeister [Funakoshi]. Indem er seine Hüften [Koshi] absenkte, nahm er eine Angriffshaltung ein. Und plötzlich – Kiai, ein Schrei – stieß er heftig in das Gesicht von Lehrmeister [Funakoshi] hinein. In diesem Augenblick bewegte sich zusammen mit einem durchdringenden Kiai, der die Atmosphäre des stillen Dōjō zerriss, die Gestalt von Lehrmeister [Funakoshi] lebhaft im Raum. Wie er [da] saß flog er [d. h. sprang er über] eine Weite von fünf Shaku [ca. 1,52 Metern], nein, von einem Ken [ca. 1,82 Metern]; und gleichzeitig wurde vom eisenartigen Arm von Lehrmeister [Funakoshi] der rechte Arm des jungen Manns annehmend weggefegt. Das Gesicht des jungen Manns wechselte zu einer fahlen Farbe, und indem er seinen rechten Arm hielt, hatte er sich schon an dieser Stelle niedergesetzt.
Lehrmeister [Funakoshi] lächelte freundlich: "Noch mehr, noch mehr!" Und er schaute, als ob er sich seiner erbarmte, in das Gesicht des jungen Manns. Die zu fürchtende Kraft der Arme von Lehrmeister [Funakoshi] ließ den gestählten Arm des jungen Manns zusehends blauschwarz anschwellen. Die Gemütsbewegung des jungen Manns, der wegen der Schmerzen seines Arms die geheime technische Fertigkeit von Lehrmeister [Funakoshi] genauestens mit eigenen Augen sah, war eine [für ihn] über alles kostbare Angelegenheit. Dieser junge Mann war ich, der Verfasser, als ich jung war. Heute ist es eine unvergessliche Erinnerung.
Diesem Zeugnis können wir entnehmen, dass Funakoshi über ein ausgeprägtes Maß an körperlich-technischem Können verfügt haben muss, das es ihm ermöglichte, einen mehr oder weniger unvermittelten Angriff (1) rechtzeitig wahrzunehmen und (2) aus einer eher ungünstig scheinenden Position wie dem Schneidersitz auf- und, Abstand herstellend, wegzuspringen. Schließlich vermochte er (3) mit offenbar gutem Timing einen Gegenschlag mit seinem Arm gegen Takagis Angriffsarm auszuführen, der von dem bereits abgehärteten Takagi als schmerzhaft empfunden wurde. Alle drei Punkte zusammen rufen das Bild eines Fachmanns wach, der wesentliche Elemente seiner Kampfkunst Karate jenseits der bloßen äußeren Form verkörperte.
Kubotas und Takagis Zeugenaussagen offenbaren Probleme an Kinjōs Kritik, die hauptsächlich auf Kinjōs Auslegung eines kurzen Texts von Funakoshi beruht. Tatsächlich widerlegen sie Kinjōs Aussage, dass Funakoshi ein "Laie" gewesen sei, der nur eine äußere Form von Karate ausgeübt habe.
Anmerkungen
Ausführliche Informationen über das Leben und die Lehre von Funakoshi Gichin liefere ich in meinen Büchern "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen" (Band I), "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band II" sowie "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band III".
Meine Übersetzung des 1937 vom Asahi-Zeitungsverlag veröffentlichten Texts über Funakoshi lege ich in "Funakoshi Gichin & Funakoshi Yoshitaka: Zwei Karate-Meister" vor (S. 14 f.).
Bibliografie
Aoi Umi (Grünblaues Meer), Naha Februar 1978
Karate-Dō Magajin JKFan (Karate-Dō-Magazin JKFan), Tōkyō August 2006
Karate to Bu-Jutsu (Karate und Kampfkunst), Tōkyō April 1985
Okinawa Asahi Shinbun-Sha (Hrsg.): Okinawa-Ken Jinji-Roku (Aufzeichnungen über menschliche Angelegenheiten der Präfektur Okinawa), Naha 1937
Ōru Jitsuwa (Alle wirklichen Geschichten), Tōkyō März 1957
Henning Wittwer