In der noch jungen Präfektur Okinawa wurde im Jahr 1880 die "Okinawanische Lehrerbildungsanstalt" (Okinawa Shihan Gakkō 沖縄師範学校) gegründet. Zweiundzwanzig Jahre später, 1902, wurde an dieser Lehrerbildungsanstalt Karate als Lehrfach eingeführt. Ab da spielte sie eine wesentliche Rolle bei der Bekanntmachung und Verbreitung des Karate in Okinawa.
1911 berichtete die "Ryūkyū Zeitung" (Ryūkyū Shinpō 琉球新報) von einem "Karate-Fest" dieser Schule, die mittlerweile "Lehrerbildungsanstalt der Präfektur Okinawa" (Okinawa-Ken Shihan Gakkō 沖縄県師範学校) hieß. Uns liefert dieser kurze Zeitungsbericht wichtige Aufschlüsse über das Karate in jener Zeit. Unten folgt meine Übersetzung des Artikels, der am 25. Tag des 1. Monats des Jahres Meiji 44 (1911) veröffentlicht worden ist. Beim Lesen müssen wir beachten, dass in dieser Zeit das japanische Wort Kata für die grundlegenden Soloübungen des Karate noch nicht üblich war. Stattdessen ist von den "Arten des Karate" oder soundso vielen "Sätzen Karate" die Rede. Im Text wird "Karate" mit den Zeichen für "chinesische Hand" (唐手) geschrieben.
Das Karate-Fest der Lehrerbildungsanstalt
Gestern eröffnete von Nachmittag an im Innenhof der ganzen Bildungsanstalt das Karate-Fest der Schüler wie von der bereits erwähnten [Bildungsanstalt]. Herrn Yabu Kentsū machten sie zur Person des Lehrmeisters. Am Anfang wurden bis zu achtzig Sätze Karate von den Schülern durchgeführt. Außerdem gab es auch etwa vier Sätze Kumite. Und hinterher führten Schüler der Mittelschule als Gäste fünf Sätze Karate vor. Am Ende gab es von den am betreffenden Tag [freundlicher Weise] als namhafte Könner dieses Wegs anwesenden [Herren diese Vorführungen]:
- "Seisan" von Herrn Funakoshi Gichin,
- "Passai" von Herrn Kiyūna,
- "Vierundfünfzig Schritte" von Herrn Yabu Kentsū,
- "Naihanchin" von Herrn Itokazu usw.
Und [damit] war [das Fest] geschlossen. Diese sind Dinge, die alle in der Karate-Welt unserer Präfektur [Okinawa] bereits berühmt sind, waren aber Dinge, die man nicht [so] einfach sehen konnte wie bei der Probevorführung des betreffenden Tags. Die Arten des Karate sind die fünfzehn Arten Nanhanchi [Naihanchi], Pinan, Chintō, Wansū, Passai, Ronsū, Kūsankū, Rōhai, Vierundfünfzig Schritte, Jitte, Nantei, Jī [Jīn], Seisan, Wandō [Wandau], Jūmu und dergleichen. Indem man Personen unter den Schülern in [diesen Arten] als hervorragend erachtete, sind ihnen wie links [aufgeführt] Preise überreicht worden. [Es folgt eine Liste mit über sechzig Preisträgern.]
Im Artikel werden vier Personen teilweise mit Ruf- und Familiennamen genannt und als namhafte Könner des Karate jener Zeit vorgestellt. Jeder der vier Männer führte eine Kata auf.
Zuerst lesen wir den Namen Funakoshi Gichin 富名腰義珍. Funakoshi (1868–1957) wurde in der Ortschaft Yamagawa, die zur ehemaligen königlichen Hauptstadt Shuri gehörte, geboren. Bis 1910 (Meiji 43) war er als Volksschullehrer tätig. Funakoshi trat bei dieser Vorführung im Alter von zweiundvierzig Jahren mit der Kata Seisan auf. Er selbst nannte sie eine Dekade später Seishan und gab ihr schließlich einen neuen Namen: Hangetsu (Halbmond). Bis heute werden Fassungen dieser Kata in mehreren Karate-Richtungen ausgeübt. Ob seine 1911 vorgetragene Seisan mit der Form übereinstimmte, die er später in Japan unterrichtete, können wir aufgrund fehlender Bilder und Beschreibungen nicht mit Sicherheit sagen.
Kiyūna 喜友名 (1845–1920) stammte aus Ōnaka und war sozusagen Berufskampfkünstler. Denn er arbeitete als Wächter des "Juwelengrabs" (Tama-Udun 玉陵) in Shuri. In diesem 1501 errichteten Mausoleum wurden bis zum Ende des Königreichs die Könige Ryūkyūs beigesetzt. Kiyūna gehörte zu den Karate-Adepten, von denen Funakoshi lernte. Bei dieser Vorführung war Kiyūna etwa fünfundsechzig Jahre alt. Passai, die von ihm aufgeführte Kata, gehört mit vielen verschiedenen Fassungen zu den heute bekanntesten Karate-Formen.
Yabu Kentsū 屋部憲通 (1866–1937) stammte wie Funakoshi aus der Ortschaft Yamagawa. Er war Kriegsveteran und hatte 1911 den militärischen Rang des Leutnants inne. Zum Zeitpunkt der Vorführung war er vierundvierzig Jahre alt. Yabus Kata ist die einzige in diesem Artikel, die mit Kanji geschrieben wird. Daher kennen wir die Bedeutung des Namens, nämlich "Vierundfünfzig Schritte". Hochjapanisch wird dieser Name Gojūshiho gelesen. In Okinawa wird heute oft der Name Ūseishī für diese Kata verwendet, der allerdings nur "Vierundfünfzig" meint. Wie Yabu selbst den Namen aussprach, geht nicht aus dem Text hervor.
Wer genau die Person war, die hinter dem letzten Namen steckt, ist weniger eindeutig. Da nur ihr Familienname, Itokazu 糸数, angegeben wird, können wir bestenfalls Vermutungen anstellen. Jedenfalls ist die von diesem Herrn aufgeführte Naihanchin bis in die Gegenwart eine Grundlage vieler Karate-Strömungen. Im Text wird nicht vermerkt, ob es sich um die dreistufige Serie von Itosu Ankō 糸洲安恒 (1831–1915) handelte.
In der nachfolgenden Liste von damals bekannten Kata-Namen tauchen neben vornehmlich bis heute gebräuchlichen Kata auch fünf eher ungewohnte Bezeichnungen auf. Wahrscheinlich handelt es sich in den folgenden beiden Fällen um bloße Druckfehler: "Nanhanchi" ist "Naihanchi" ("Tekki" im Shōtōkan-Ryū) und "Jī" ist "Jīn" (Shōkyō). Der okinawanische Karate-Forscher Kinjō Hiroshi 金城裕 (1919–2013) vermutet auch hinter den drei restlichen ungewohnten Namen Fehler. Für ihn wäre "Ronsū" die Kata Chinsū und "Nantei" die Kata Chintei. Schließlich geht er davon aus, dass "Jūmu" für die Kata Jion stehen müsse. Eine stichhaltige Begründung für seine Vermutungen liefert er aber nicht. Falls die Bezeichnung "Ronsū" tatsächlich ein Fehler sein sollte, dann könnte genauso gut die Kata Unsū (Unshu) gemeint sein. Besonders fragwürdig ist seine Vermutung, dass "Jūmu" eigentlich Jion sei. So nennt etwa Funakoshi 1922 in ein und derselben Namensliste sowohl Jion als auch Jūmu – und er war ein Teilnehmer des Karate-Fests von 1911.
Neben den vielen Kata-Vorführungen lesen wir auch von Kumite-Vorführungen. Sie waren im Vergleich zu den Kata mit nur "etwa vier Sätzen" offensichtlich viel weniger stark vertreten. Dennoch belegt dieser Zeitungsbericht, dass im Okinawa dieser Zeit Kumite Teil der Karate-Praxis war. Genauere Ausführungen zu diesen Kumite fehlen allerdings.
Schließlich verrät uns der Artikel noch, dass über sechzig Teilnehmer, deren Vorführungen als gut befunden worden waren, eine Art Preis oder Belohnung erhielten. Diese Maßnahme dürfte dabei geholfen haben, die Beliebtheit des Karate unter den Teilnehmern zu steigern. Sowohl dieses Karate-Fest selbst als auch den Zeitungsbericht darüber können wir als Versuche werten, Karate in der damaligen Präfektur Okinawa weiter bekannt zu machen.
Anmerkungen
Ausführlich behandle ich die geschichtlichen Hintergründe der Kata Naihanchi (Tekki), Pinan (Heian) und Kūsankū (Kankū) in meinem Buch "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen" (Band I).
Eingehende Informationen zur Geschichte von Seisan (Hangetsu) und Chintō (Gankaku) sowie zum Kumite liefere ich in meinem Buch "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band II". In beiden Büchern gehe ich zudem ausführlich auf das Thema Kata allgemein ein.
Bibliografie
G. Funakoshi: Ryūkyū Kenpō. Karate (Ryūkyūs Faustmethode: Die chinesische Hand), Tōkyō 1922
A. Kinjō: Karate Denshin-Roku (Lebensechte Aufzeichnungen zum Karate), Naha 1999
H. Kinjō: Karate kara Karate e (Von der Chinesischen Hand zur Leeren Hand), Tōkyō 2011
M. Nakamoto: Okinawa Dentō Kobudō. Gairyaku to Shuri-Te-Kei no Karate Kobudō no Tatsujin (Traditionelles Kobudō aus Okinawa – Ein Abriss mit Karate- und Kobudō-Meistern der Linie des Shuri-Te), Uruma 2006
S. Takamiyagi et al.: Okinawa Karate Kobudō Jiten (Lexikon des okinawanischen Karate und Kobudō), Tōkyō 2008
Henning Wittwer