Einunddreißig Jahre nach Funakoshi Gichins 船越義珍 (1868–1957) Ableben nahm sich eine japanische Karate-Zeitung vor, das „ungeschminkte Gesicht“ dieses Karate-Pioniers vorzustellen. Zu diesem Zweck sammelte sie u. a. von einigen bekannten Größen aus der Welt des Karate kurze Kommentare zu seiner Person.
Zwei der Befragten waren Schüler Funakoshis, vier weitere unter ihnen stammen aus anderen Schulrichtungen des Karate und beim siebten handelte es sich um seinen Enkelsohn.
Um ein möglichst vollständiges Bild von Funakoshi Gichin, seinem Leben und seiner Lehre, zu erhalten, ist es durchaus sinnvoll, auch solche persönlichen Meinungen zu kennen. Unten folgt meine Übersetzung dieser Aussagen, die in keiner bestimmten Reihenfolge angeordnet sind. Im Original folgt jedem der Namen noch ein Hinweis auf das derzeitig von ihm ausgefüllte Amt in dieser oder jener Organisation.
- Nagamine Shōshin 長嶺将真 (1907–1997):
Er ist unter der Vielzahl der Kampfkünstler [Bujin] des okinawanischen Karate, Sumō usw. eine Person, die eine Position in der historischen Spitzenklasse einnimmt. In der Welt des Karate ist er eine Person mit bedeutenden Verdiensten und gleichzeitig war er ein hervorragender Kampfkünstler.
- Nakazato Shūgorō 中里周五郎 (1920–2016):
Mein Lehrer, Chibana Chōshin [知花朝信; 1885–1969), war ein jüngerer Mitschüler von Meister Funakoshi. Von Meister Chibana hörte ich, dass er ein sanftmütiger und ziemlich großartiger Mann war. Es ist wohl gut, ihn sowohl im Gelehrtentum [Gaku] als auch in der Kampfkunst [Bu] einen Fachmann zu nennen, nicht wahr?
- Higa Yūchoku 比嘉佑直 (1910–1995):
Mein Lehrer war Meister Chibana und Meister [Chibana] hatte Respekt vor Meister Funakoshi, wirklich! Auch der gemeinsame Lehrer der beiden Herren, Meister Itosu, soll ihn gelobt haben.
Dann gibt es eine Sache, die ich von Leuten aus dem "Pförtnerhaus der Klarheit und des Rechten" [Meishō-Juku] hörte. Anfangs wurde von der Allgemeinheit gesagt, dass seine kämpferischen Vorführungen des Karate und das Tanzen gleichartig sind. In der Geschichte heißt es also, dass ein Schüler von Meister Funakoshi, Taira Shinken [平信賢; 1897–1970], [infolgedessen] entrüstet Übung anhäufte und Bruchtests [Tameshi-Wari] mit Brettern anfing.
- Miyahira Katsuya 宮平勝哉 (1918–2010):
Gerade als er Schuldirektor der Grundschule wurde, soll er hoch in die Hauptstadt [nach Tōkyō] gegangen sein, nicht wahr? Was technische Größen des Karate betrifft, waren es in Okinawa viele, aber der, der gebildet erklären konnte, war wohl Meister Funakoshi. Auch ich ging im Jahre Shōwa 32 [1957] nach Tōkyō und da ich die Gelegenheit hatte, wollte ich ihn unbedingt treffen. Damals konnte ich ihn aber mit seiner [schlechten] körperlichen Verfassung nicht sprechen.
- Takagi Masatomu 高木正朝 (1912–1996):
Ich bin seit meiner Studentenzeit im Jahre Shōwa 4 [1929] ins "Pförtnerhaus der Klarheit und des Rechten" [Meishō-Juku] gegangen. Ach, das war so ein Erlebnis! Einmal habe ich versucht, auf den sitzend eingenickten und schlummernden Meister mit einem "Ei!" einen Stoß abzugeben. Dann sprang der Meister so im Schneidersitz [Agura] etwa einen Meter und machte dabei eine Annahme auf der mittleren Stufe [Chūdan-Uke]!
Seine Technik [Waza] war das Höchste und dazu hinterließ er mit den "Zwanzig Unterweisungen zum Karate" das Mark des Karate-Dō, nicht wahr? Ist es also nicht gut, ihn einen Philosophen zu nennen? Je mehr er alterte, desto mehr traf die Größe des Meisters mein Herz!
- Noguchi Hiroshi 野口宏 (1910–2002):
Seitdem ich ihn zum ersten Mal sah, lautete mein Eindruck, dass dieser Meister sowohl in Unterrichtsmethode, als auch im Charakter gut ist, wirklich!
Meine erste Erinnerung war der Zeitpunkt einer kämpferischen Vorführung zur Mitgliederwerbung für neue Studenten der Waseda-Universität. Als ich mit einem vom Meister gekauften Brett einen Bruchtest [Tameshi-Wari] machte, zerbrach es einmal nicht und ich habe mir die Finger verletzt. Damals bekam ich von ihm gesagt: "Sie haben den Feind also leider nicht erforscht, oder?!" Diese bleiben mir als tiefe Worte noch immer erhalten.
- Funakoshi Ichirō 船越一郎 (1928–1993), der älteste Sohn des ältesten Sohnes von Funakoshi Gichin, sein Enkel:
Nicht einmal wurde ich von Großvater gescholten, wirklich! Er war ein heiterer Großpapa mit guter Gesundheit. Wir haben sieben Jahre zusammen gelebt und wenn er Zeit hatte, machte er Schriftsachen. Er saß immer im Seiza [Fersensitz mit geradem Rücken], wirklich! Er war klein und hatte ein bisschen O-Beine. Er sagte selber, dass er von klein auf Karate machte und seinen Körperbau gefestigt hatte.
Anmerkungen
Ausführliche Informationen über das Leben und die Lehre von Funakoshi Gichin liefere ich in meinen Büchern "Funakoshi Gichin & Funakoshi Yoshitaka: Zwei Karate-Meister", "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen" (Band I), "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band II" sowie "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band III".
Bereits 1935 äußerte sich Higaonna Kamesuke 東恩納亀助 (1905–1968) über Funakoshi. Seine Meinung über ihn findet sich in "Higaonna Kamesuke über Karate in Okinawa, Japan & Hawaiʻi" auf S. 45 f. und S. 105.
Quelle
Gekkan Karate-Dō (Karate-Dō. Monatliche Ausgabe), Tōkyō Mai 1988
Henning Wittwer