Wie wurde Karate im Japan der 1930er Jahre beworben? Eine Antwort auf diese Frage liefert zugleich auch Anhaltspunkte über das Selbstverständnis der Karate-Anhänger jener Zeit. In einer im Frühling 1937 (Shōwa 12) herausgebrachten Broschüre mit dem Titel "Gespräche zum Karate" findet sich ein Beispiel für solch eine Werbung.
Ihr Verfasser ist Nakasone Genwa 仲宗根源和 (1895–1978), der für die Herausgabe einiger Veröffentlichungen über die Kampfkunst seiner Heimat, der Präfektur Okinawa, bekannt ist. Er verfasste diese Werbung anstelle eines Vorwortes. Hier meine Übersetzung:
Lernen Sie Karate!
Karate gibt Personen ohne Gallenkraft [Mut] Gallenkraft.
Karate gibt Personen ohne Tapferkeit Tapferkeit.
Karate schützt einen bei unerwarteten Vorfällen.
Karate fördert die Gesundheit und verdoppelt die Leistungsfähigkeit.
Karate macht das Leben klar und heiter und es sichert ein langes Leben.
Karate kann man alleine üben. Man kann es auch zusammen in einer Gruppe von Leuten üben.
Karate können alle üben, Kinder und alte Leute, Männer und Frauen.
Die Übung des Karate kommt der Körperkraft eines jeden einzelnen entgegen und es steht einem frei, ob sie heftig oder leicht ist.
Für die Übung des Karate ist es überhaupt kein Hindernis, ob es ein enger Ort oder ein weiträumiger Ort ist.
Für die Übung des Karate ist ein bisschen Zeit am Morgen, Mittag oder auch Abend gut.
Zurzeit haben wir eine Notlage. Für Privatperson und für die Gruppe in der Familie, der Gesellschaft und der Nation sind derzeit die Tugenden der Tapferkeit, der Gallenkraft [Mut], der Gesundheit, der Leistungsfähigkeit, der Klarheit usw. der notwendigste Faktor zur Überwindung der Notlage.
Ich rufe: Lassen Sie es mit lauter Stimme weit und breit im ganzen Land erhallen, ohne die Ohren der hundert Millionen von Landsleuten zu übergehen!
»Lernen Sie Karate! Und überwinden Sie dann die Notlage!«
Im letzten Teil enthält dieser Text einen deutlich politischen Unterton. Bereits 1934 gab Nakasone in der ersten und offenbar leider letzten Ausgabe seines Journals "Forschungen zur Leeren Hand" (Karate Kenkyū) bekannt:
Karate-Dō ist bei der Pflege des Geistes des neuen japanischen Bushidō das mächtigste Budō.
Das, was er hier als „neues japanisches Bushidō“ bezeichnet, stellt vereinfacht ausgedrückt eine vom Staat gegründete Ideologie dar, welche den Kaiser zu ihrem Mittelpunkt erhebt und u. a. zum Gehorsam auffordert. Daraus wird ersichtlich, dass Nakasone sich dieser Ideologie anschloss. Während er sich 1934 vor allem an Karate-Anhänger selbst richtete, warb er mit „Lernen Sie Karate!“ in der allgemeinen japanischen Öffentlichkeit.
Auch Funakoshi Gichin 船越義珍 (1868–1957) widersprach dem japanischen Zeitgeist der 1930er Jahre nicht wirklich, als er beispielsweise 1935 formulierte:
Nach dem, was ich glaube, ist es [das Karate] eine Sache, die zum Vorstoß des Yamato-Volks in die Welt beiträgt.
Anmerkung
Meine vollständige, erläuterte Übersetzung von Funakoshis zitiertem Text von 1935 stelle ich in "Shōtōkan – überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band II" (S. 50–78) vor.
Bibliographie
G. Nakasone (Hrsg.): Karate Kenkyū (Forschungen zur Leeren Hand), Tōkyō 1934
G. Nakasone: Karate no Hanashi. Risōna Taiiku Goshin Rentan Hō (Gespräche zum Karate – Eine ideale Methode der Leibeserziehung, des Selbstschutzes und zum Schmieden des Muts) (Neuauflage), Ginowan 1997
Henning Wittwer