In diesem kleinen Artikel möchte ich mögliche Probleme anschneiden, auf die ein Nutzer von Kampfkunstlexika treffen kann. Zur Veranschaulichung soll der Eintrag zum Shōtōkan-Ryū im "Großen Lexikon der Schulen der Kriegskünste", dessen Erstausgabe 1978 erschien, genutzt werden.
Er besteht aus zwei Teilen, nämlich einer kurzen Erklärung sowie einer Stammtafel. Werfen wir zunächst einen Blick auf den ersten Teil:
Shōtōkan-Ryū 松涛館流 (Karate)
Funakoshi Gichin [船越義珍]. Der vorherige Name ist Herr Funakoshi [富名腰]. Er wurde im Jahre Meiji 3 [1870] im Viertel Yamagawa in Shuri, Okinawa, geboren. Er wohnte in Tōkyō. Er lernte bei Asato Ankō [安里安恒]. Er war der Organisator der Nihon Karate Kyōkai [JKA]. Sein Dōjō hieß "Gebäude der Kiefernwoge" [Shōtōkan]. Er starb am 26. Tag des vierten Monats im Jahre Shōwa 32 [1957]; er [wurde] 88 Jahre.
Obgleich es sich nur um einen knappen Text handelt, treffen wir auf einige Stolpersteine, sogar auf Fehler. Schon in der Überschrift finden wir das erste Problem. Die Autoren verwenden für "Shōtōkan" die Schriftzeichen (Kanji) 松涛館. Nun handelt es sich bei 涛 um eine vereinfachte Form des Kanji 濤. Vom Tag seiner Einweihung an wurde jedoch die Schreibung 松濤館 genutzt und auch der heutige Shōtōkan schreibt sich noch immer so. Aussprache und Bedeutung ändern sich durch die Schreibweise im Lexikon zwar nicht, doch es handelt sich eben nicht um die von Funakoshi gewählte Schreibung.
1870 ist nicht das reale Geburtsjahr Funakoshis, der in seiner Biographie ausführlich erläutert, dass er sein Geburtsjahr umdatierte. Tatsächlich wurde er 1868 geboren und wurde somit auch älter als 88 Jahre.
Mit der "Organisation der Nihon Karate Kyōkai", die unter dem englischen Kürzel JKA bekannter ist, waren ab 1948 vor allem einige Schüler Funakoshis beschäftigt. Funakoshi selbst wurde als "Lehrmeister" (Shihan 師範) oder als "Höchster technischer Berater" (Saikō Gijutsu Komon 最高技術顧問) dieser Gesellschaft erachtet. Er fungierte daneben ebenso für Karate-Klubs zahlreicher Universitäten und privater Übungsstätten als Shihan. Besser müsste es folglich heißen:
Funakoshi war für viele Gruppen und Vereinigungen als "Lehrmeister" tätig, u. a. für die Nihon Karate Kyōkai.
Dass die JKA nur eine unter vielen Vereinigungen ist, zeigt sich in der nachfolgenden Schülerliste. Zu Recht stellt sich daher die Frage, weshalb die Verfasser ausgerechnet die JKA in dem kurzen Text anführen, nicht aber z.B. seinen eigenen Verein, den Shōtōkai.
Dem kurzen Text folgt eine Stammtafel, in welcher nicht weniger als einundfünfzig Personen als Schüler Funakoshis angeführt werden. Für unsere Betrachtung genügen Ausschnitte dieser Übersicht:
□ Shōtōkan-Ryū Karate 松涛館流空手
Funakoshi Gichin
船越義珍 ┐
┌─────┘
├ Funakoshi Gigō 船越義豪 (Shōtōkai)
╪
├ Mizuda Tsugio 水田二雄 (Shōtō Rengōkai)
├ Gima Shinkin 儀間真謹
├ Kasuya Masahiro 粕屋真洋
╪
├ Nakayama Masatoshi 中山正敏 (Nihon Karate Kyōkai)
├ Itō Kimio 伊藤公夫 (Nihon Karate Kyōkai)
├ Nishiyama Hidetoshi 西山英俊
├ Yoshida Moto'o 吉田基雄
├ Matsumoto Yoshiharu 松本好治
├ Yamanami Tadashi 山南忠
├ Miyata Minoru 宮田実
├ Fukui Isao 福井功 (Takukūkai)
├ Shimizu Toshiyuki 清水敏之
├ Ōtsuka Hironori 大塚博紀 (Wadō-Ryū)
├ Konishi Yasuhiro 小西康裕 (Ryōbukan, Shindō Jinen-Ryū)
├ Yamada Tatsuo 山田辰雄 (Nihon Kenpō-Ryū)
├ Sasaki Takeshi 佐々木武 (Chidōkai)
├ Hori Tomio 堀十三男 (Nihon Karate-Dō Dōjō-Kai)
├ Taira Shinken 平信賢 (Kongō-Ryū)
╪
├ Egami Shigeru 江上茂 (Shōtōkai)
├ Noguchi Hiroshi 野口宏 (Tōmonkai)
├ Hironishi Motonobu 広西元信 (Shōtōkai)
├ Takagi Fusajirō 高木房次郎
├ Ogura Sumio 小暮清雄
├ Shimoda Takeshi 下田武
╪
└ Yamamoto Takayuki 山本孝行 (Shōtō Dōmonkai)
Alle Personen werden in dieser Übersicht als direkte Schüler Funakoshi Gichins dargestellt, was einer starken Vereinfachung entspricht. Insbesondere die jüngeren angeführten Persönlichkeiten erhielten ihren Karate-Unterricht innerhalb eines vielschichtigen Umfelds von älteren und jüngeren Kollegen (Senpai und Kōhai), in dem Funakoshi selbst manchmal nur noch als Randfigur auftauchte. Umgekehrt lernten ältere Personen, wie z.B. Kasuya Masahiro (1888–1969), quasi ausschließlich von Funakoshi.
Einigen Personen werden Vereinigungen zugeordnet, anderen nicht. Manchmal handelt es sich bei letzteren um recht bekannte Vertreter der einen oder anderen Organisation, was dem Leser des Lexikons somit natürlich verborgen bleibt. Problematisch ist zudem, dass der eine oder andere Adept gleich Mitglied mehrerer Vereinigungen ist bzw. war.
Unter den Vereinigungen bzw. Strömungen fällt "Kongō-Ryū" besonders auf, da es sich offensichtlich um eine Erfindung der Autoren handelt. Im Lexikon gibt es für diese Strömung sogar einen eigenen Eintrag. Ihr vermeintlicher Schöpfer ist Taira Shinken (1897–1970). Taira nutzte die Bezeichnung "Kongō" 金剛 tatsächlich, aber allein zur Bezeichnung zweier Kata. 1938 nannte er die Kata Shūji no Kon (Shūshi no Kon) "Kongō no Kon" und später stellte er eine eigene Stock-Kata zusammen, der er die Bezeichnung "Kongō no Kon" gab. Jedenfalls gründete er keine eigene Schulrichtung diesen Namens.
Unter den Personennamen können wir ein paar Fehler ausmachen. Beispielsweise wird der Name "Kasuya Masahiro" im Lexikon mit den Kanji 粕屋真洋 geschrieben. Gelesen werden sie tatsächlich "Kasuya Masahiro"; aber die Person, um die es geht, schreibt sich 粕谷真洋. Mit "Nishiyama Hidetoshi" ist mit großer Wahrscheinlichkeit Nishiyama Hidetaka (1928–2008) gemeint. Sein Name müsste richtig 西山英峻, anstatt 西山英俊 geschrieben werden.
Abgesehen davon werden einige Namen – ähnlich wie im Fall "Shōtōkan" – mit vereinfachten Kanji geschrieben. So wäre die Schreibung für "Hironishi Motonobu" 廣西元信, anstelle von 広西元信.
Wie wir am Beispiel des Eintrags für "Shōtōkan-Ryū" im "Großen Lexikon der Schulen der Kriegskünste" sehen, sollten Nachschlagewerke zur Kampfkunst mit einem kritischen Auge gelesen werden. Als Hauptprobleme, auf die wir dabei immer wieder stoßen, sind zu nennen:
- falsche Schreibung von Namen und Bezeichnungen,
- falsche Jahreszahlen,
- aufgrund der Kompaktheit missverständliche oder unzureichende Erläuterungen.
Anmerkungen
Ausführliche Informationen über das Leben und die Lehre von Funakoshi Gichin liefere ich in meinen Büchern "Funakoshi Gichin & Funakoshi Yoshitaka: Zwei Karate-Meister", "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen" (Band I) sowie "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band II".
Bibliographie
G. Funakoshi: Karate-Dō Ichiro (Karate-Dō – Ein Weg), Tōkyō 1976
G. Hironishi (Hrsg.): Egami Shigeru Tsuisōroku (Erinnerungen an Egami Shigeru), Tōkyō 1981
M. Nakamoto: Okinawa Dentō Kobudō. Gairyaku to Shuri-Te-Kei no Karate Kobudō no Tatsujin (Traditionelles Kobudō aus Okinawa – Ein Abriß mit Karate- und Kobudō-Meistern der Linie des Shuri-Te), Uruma 2006
K. Watani / T. Yamada: Bugei Ryūha Daijiten (Großes Lexikon der Schulen der Kriegskünste), Tōkyō 2003
Henning Wittwer