Motobu Chōki 本部朝基 (1870–1944) zählt zu den bekannteren Zeitgenossen von Funakoshi Gichin 船越義珍 (1868–1957). Daher sind seine Ansichten zu den Übungsformen des Karate wertvolle Hilfen zum besseren Verständnis von geschichtlichen und technischen Hintergründen. Motobu selbst lernte u. a. von Itosu Ankō 糸洲安恒 (1831–1915), dem halblegendären Matsumura Sōkon 松村宗棍 und Sakuma 佐久間, dem Seniorschüler von Itosu.
In dem nachfolgenden, von mir übersetzten Text aus dem Jahre 1932 geht Motobu auf einige "Falschüberlieferungen" der Kata Naihanchi ein:
In Naihanchi öffnet man die Füße in der Form des Schriftzeichens 八 [dt. "acht"], wie Sie, glaube ich, bereits wissen. In diesem Fall gibt man in der Weise Kraft hinein, dass man die Fußflächen zusammenzieht und die Innenseiten fest zusammenpresst. So unterrichtet man es heutzutage im Allgemeinen.
Außerdem erachten die Leute dies als berechtigt, aber sie wurden außerordentlich fehlgeleitet. Allerorten schöpfen die Lehrmethoden dieser Kata hauptsächlich aus der Strömung des ehrwürdigen Itosu.
Beim ehrwürdigen Matsumura, beim ehrwürdigen Sakuma und dergleichen wurde es mir so gelehrt, dass man allein nur durch das Öffnen der Füße zum Schriftzeichen 八 Kraft bekommt. Dieser Punkt war auch mir anfangs ausgesprochen fraglich. Ich vergewisserte mich beim ehrwürdigen Matsumura und beim ehrwürdigen Sakuma. Matsumuras Aussage war:
"Die Form von Itosu no Kāmīgwā ist im Falle einer wirklichen Konfrontation äußerst gefährlich. Lassen Sie sie sofort fallen!"
Ich denke, indem ich es immer wieder vermutet habe, dass ich Matsumuras Meinung folgen möchte. Zunächst stand ich versuchsweise mit der Itosu-Strömung in [der Form des] Schriftzeichens 八 und zog die Fußsohlen zusammen. Wenn ein Mensch ein bisschen von hinten mit seinen Fingerspitzen drückt, fällt man leicht um. Wieviel Kraft hineingebend man sich folglich auch aufstellt, es hat überhaupt keine Wirkung. Die Kata muss eine möglichst nahe an der Wirklichkeit gelehrte Sache sein. Wegen dem gewaltsamen Hineingeben der Kraft, hinterlässt man der Welt eine weit von der Wirklichkeit entfernte Kata. Ich kann das nicht besonders bewundern. Deswegen kann ich diesem Zusammenziehen der Fußsohlen absolut nicht zustimmen. Gleichzeitig möchte ich es wagen, das falsch Gemachte einer breiten Öffentlichkeit zu enthüllen.
In einem Lehrgedicht im Ryūkyū-Stil (Ryūka), das laut Nagamine Shōshin 長嶺将真 (1907–1997) von Motobu Chōki stammen soll, wird betont, dass die Form (Kata) als Grundlage nutzlos ist, wenn der Adept das Konzept der "verwandelnden Hand" (okin. Hindi) nicht kennt:
Kata ya Kata Sadami,
Waja ya Waja Sadami:
Hindi-Waja shiranu,
Nu yakutachu ga.
Die Form hat die Regeln der Form;
Die Technik hat die Regeln der Technik:
Kennst Du die Technik der verwandelnden Hand nicht,
Was nützen sie Dir [dann]?
Auch von Funakoshi wurde das Konzept der "verwandelnden Hand" stets betont. So zeigen sich mögliche Übereinstimmungen in der Lehre der beiden Karate-Pioniere Funakoshi und Motobu.
Anmerkungen
Weitere interessante Einsichten in Motobu Chōkis Leben und Lehre finden sich in meinem Buch "Higaonna Kamesuke über Karate in Okinawa, Japan & Hawaiʻi". Ausführliche Informationen über die Kata Naihanchi (Tekki im Shōtōkan-Ryū) sowie über das Verhältnis von Kata und Kumite liefere ich in meinen Büchern "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen" (Band I) und "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band II".
Bibliografie
K. Iwai: Motobu Chōki to Ryūkyū Karate (Motobu Chōki und das Karate aus Ryūkyū), Tōkyō 2001
S. Nagamine: Shijitsu to Kuden ni yoru. Okinawa no Karate Sumō Meijin-Den (Überlieferungen zu Meistern des okinawanischen Karate und Sumō – historische Tatsachen und mündliche Überlieferungen verwendend), Tōkyō 1986
Henning Wittwer