Häufig finden wir im Umfeld der japanischen Kampftraditionen Verweise auf den Doppelweg von Literatur und Kampfkunst (Bunbu Ryōdō 文武両道). Allgemein ausgedrückt beschreibt diese Maxime, dass sich ein Kampfkünstler neben dem Meistern seiner kämpferischen Fertigkeiten unter anderem zusätzlich mit Literatur und den schönen Künsten befassen kann. Auch die Kampfkünstler des Inselkönigreichs Ryūkyū machten sich diesen Doppelweg zu eigen.
Für Funakoshi Gichin 船越義珍 (1868–1957) stellte sein Karate-Lehrer, Asato Ankō 安里安恒 (1828–1906), ein vorbildliches Beispiel für eben diesen Doppelweg dar. So war Asato im Umgang mit dem japanischen Säbel, mit typischen okinawanischen Waffen, wie dem Stock (Bō), dem Nunchaku usw., im Kampf mit bloßer Hand, im Bogenschießen und Reiten ebenso bewandert wie in der chinesischen und japanischen Dichtkunst.
Im Jahre 1909 veröffentlichte der Karate- und Jūdō-Adept Tokuda Antei 徳田安貞 (1884–1979) in Ausgabe 18 von "Kyūyō" einen Artikel, in dem er die Gedanken seines Karate-Lehrers, Itosu Ankō 糸洲安恒 (1831–1915), vorstellte. Dabei griff er auch auf zehn von Asato Ankō verfasste Kurzgedichte zurück, in denen Asato Lehrsätze seines Freundes Itosu poetisch verarbeitete.
In diesem Fall handelt es sich um Kurzgedichte (Tanka 短歌) im japanischen Stile. Tanka setzen sich immer aus 31 Silben zusammen, die einem Muster von 5 Silben – 7 Silben – 5 Silben und schließlich 7 Silben – 7 Silben folgen. Diese typisch japanische Art der Dichtung findet sich bereits in der "Sammlung der Zehntausend Blätter" (Man'yōshū), einer Gedichtsammlung vom Ende des 8. Jahrhunderts.
Bemerkenswert ist überdies, dass Asato das Thema "Karate" für einige seiner dichterischen Werke aufgreift. Denn dies offenbart eine tiefergehende Verbundenheit Asatos mit seiner Kampfkunst, aber auch mit seinem "Waffenbruder" Itosu, dessen Lehrmeinung er ja zu Papier brachte.
Im Folgenden stelle ich fünf der zehn Tanka Asato Ankōs vor. Ich wählte diese fünf, da ich ihre Übersetzung nicht umfangreicher kommentieren brauche und sie mehr oder weniger selbsterklärend sind. Asato gebraucht in seinen Tanka für den Begriff "Karate" die Kanji für "chinesische Hand", 唐手. Hier verwende ich für die Postposition "o" die alte Umschrift "wo".
Unser erstes Beispiel mahnt zum gleichzeitigen Meistern von Theorie und Praxis:
Taiyō wo
kanete jukuren
sezari naba
Karate no Michi wo
ayamarurunari.
Wenn Ihr in Wesen und Funktion
nicht gleichzeitig erfahren
werdet,
im Wege des Karate
Ihr Euch irrt!
Eine grundlegende Forderung zur Körperausrichtung liefert das zweite Beispiel:
Kata wo sage
Koshi wo massugu
fumitatete
Ashi ni Chikara wo
tsuyoku toru beshi.
Senkt die Schultern,
Begradigt die Hüften
und steht aufstampfend
Und in die Beine die Kraft
Ihr solltet nehmen stark!
Wer fleißig trainiert, kann – laut Itosu – auf einen kräftigen Körper hoffen:
Karate woba
Kinkotsu tsuyoku
korikatame
Mi wo Tesseki ni
nasu mono zokashi.
Karate
die Muskeln und Knochen stark
härtet und festigt.
Der Körper zu Eisen und Stein
wird, in der Tat!
Ein Ziel der Karate-Übung beschreibt das folgende Beispiel:
Karate woba
tsuku mo keru wo mo
jukutatsushi
Teashi wo Yari no
Hoko to nasu beshi.
Karate
sowohl das Stoßen als auch das Treten
meistert.
Und Hände und Füße zu Speer-
spitzen werden!
Schließlich liegt der Nutzen der Anwendung des Karate für Itosu in einem wirkungsvollen Schlag:
Karate woba
Tsubame no yōni
hayakarumo
Ate ga kikanuba
Eki nakarikeri.
Ist Karate
wie eine Schwalbe
auch so schnell,
wenn der Schlag nicht wirkt,
hat es keinen Nutzen!
Natürlich kennt die Karate-Welt weitere Tanka, die das Karate mehr oder weniger unmittelbar thematisieren, doch Asato Ankōs Kurzgedichte sind die bisher ältesten, mir bekannten Beispiele. Daher nehmen sie eine besondere historische Stellung ein.
Anmerkungen
Ausführliche Informationen über das Leben und die Lehre von Asato Ankō liefere ich in meinen Büchern "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen" (Band I) und "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band II". "Band II" enthält alle zehn Tanka von Asato mit umfassenden Erklärungen.
Bibliographie
G. Funakoshi: Onshi Asato Ankō Sensei no Itsuwa (Anekdoten über meinen verehrten Lehrer, Meister Asato Ankō) (Artikel), Tōkyō 1934 (deutsch in "Shōtōkan – überlieferte Texte & historische Untersuchungen")
S. Takamiyagi et al.: Okinawa Karate Kobudō Jiten (Lexikon des okinawanischen Karate und Kobudō), Tōkyō 2008
Henning Wittwer